Der Besuch der alten Dame
Es war mal wieder so weit. Ich konnte nichts mehr sehen. Wenn Augen öffnen, Licht anmachen oder Brille putzen nicht mehr weiter helfen, ist es Zeit beim siebten Himmel anzurufen. So heißt nämlich mein Stammfrisör. Naja, wenn man bei zwei Besuchen pro Jahr schon von einem Stammfrisör reden kann. "Heaven Seven" heißt dieser wunderschöne Salon, in dem wie selbstverständlich ausser Haare schneiden, waschen, färben, föhnen auch Kunst her- und ausgestellt wird. Skulpturen von - ja wie originell - Engeln und Gemälde von möchtegern Picassos unseres Künstlerstadtteils Flingern-Nord. Beim Haarewaschen gibts gratis noch eine Lichtdusche obendrauf und aus den Boxen erklingt die Musik
der 20er Jahre.
Biggi versah mein Kopfhaar mit neuen Stufen und kürzte den Vorhang vor meinen Augen zu einem ansehnlichen Pony. Ich genoß es, einfach nur so dazusitzen und nichts zu tun, während um mich rum geschnibbelt, gebürstet und gefegt wurde. Dann ging die Türe auf und eine reife Dame polterte herein.
Auftritt Frau Stephan. So wurde sie begrüßt. Die Art sie zu begrüßen und ihre ganz eigene Art, diese Begrüßung zu erwidern ließen nur die Schreibweise des Namens mit 'h' zu. Anders wäre sicher unter ihrem Niveau gewesen. Sie stöhnt und pustet Luft in den Raum, als wolle sie mit dem Fön konkurrieren, dann plumpst sie in einen Stuhl und läßt uns wissen "Ich sitze". Ungefragt sprudeln Worte aus ihrem Mund in die Mitte des Raumes, wo sie dann scheinbar ungehört verpuffen. Niemand sieht sie wirklich an, oder fragt sie etwas, bis sich ihr der niedliche Lehrling zuwendet und fragt, ob sie etwas trinken wolle. Nein, trinken wolle sie nichts. Sie freue sich auf ihr Bier. Es warte übrigens zu Hause im Kühlschrank. "Bier habe man leider nicht", erwidert zaghaft der Lehrling, worauf sie schnaubend verkündet, dass sie ja auch keines wolle. Das habe sie ja grade gesagt. Bier ist erst später dran. "wie sieht denn der Keller aus? Ich bin ja zu faul, da jetzt selber nachzugucken, aber meine Neugier läßt mir doch einfach keine Ruhe. Mein Arzt probiert schon wieder was neues. Die Beine schmerzen ja so fürchterlich, und niemand kann mir helfen." Man kann die Pein förmlich um ihre Waden kriechen sehen, wie sie ihre Fühler nach den Knien und den oberen Schenkeln ausstreckt.
Diese Frauen, perfekt geschminkt, die Haare so grandios frisiert wie meine noch nicht mals NACH dem Frisörbesuch aussehen. Dann fängt sie an einen Laib Brot zu essen. "Zu Hause tu ich ja dick Butter drauf, aber hier hab ich ja keine zur Hand. Ach, es muß ja auch mal ohne gehen. Jetzt sieht man sie schmatzen und genüßlich den frischen Laib in der Tüte inspizieren. Nach der Hälfte des Brotes mußte ich den siebten Himmel leider verlassen. Was aus Frau Stephan, dem Keller, dem Bier und dem Schmerz geworden ist, bleibt für immer ein Geheimnis.
Das Schicksal des Brotes war wohl besiegelt.
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