Käse-Schinken-Baguette
Neulich beim Augenarzt. Ich sitze als Notfall im Wartezimmer und bin auf locker mal ne Stunde Wartezeit eingestellt. Vorausschauend habe ich mir ein riesiges Käse-Schinken-Baguette gekauft, das ich nun vor den Augen der Mitwartenden auspacke. Im Viereck sitzen wir auf Designerstühlen und starren das Nichts in der Mitte des Raumes an. Ich kann natürlich nicht eindeutig sagen, wer hier überhaupt noch was sehen kann, aber ich gehe mal von mindestens 75 % durchschnittlicher Sehkraft der Anwesenden aus. Es ist kurz vor 12. Für die Rollator-Rentnerin mit Sicherheit Mittagsessenzeit. Selbst wenn sie nicht mehr viel sieht, schmecken tuts ihr offensichtlich noch gut. Zu Hause warten bestimmt noch die Reste vom Sonntagsbraten in ranziger beiger Soße.
Als ich meine Brötchentüte aus dem Rucksack fummel, zieht das Rascheln sämtliche Augenpaare auf mich. Ich entschließe mich trotz missbilligender Blicke einen ersten Bissen zu wagen. Schließlich verbringe ich hier meine Mittagspause und nach der Behandlung meines sicher schwerst verletzten Auges werde ich vermutlich keine feste Nahrung mehr zu mir nehmen können. Schmerzmittel, Narkosemittel, Beruhigungstabletten und wer weiss was noch werden mich tagelang außer Gefecht setzen.
Ich beiße also in mein Henkersmalzeit-Baguette und konzentriere mich auf den Käse-Schinken-Remoulade-Gurken-Tomaten-Brei in meinem Mund. Die Blicke lösen sich nicht von mir. Im Gegenteil. Wie Kletten haften sie an meinem Mund und verfolgen jeden Krümel, der sein Ziel verfehlt einzeln. Einige dieser scharfkantigen Krümel schaffen es nicht über meinen Schal hinaus. Die meisten landen allerdings auf meiner Hose in der nähe des Stoffhügels um den Reißverschluß. In regelmäßigen Abständen führe ich eine Schüttel-Streichbewegung aus, um die Krümel auf den Boden zu befördern. Die Menschen hinter den Blicken sehen das bestimmt nicht gerne. Sicher fragt sich jemand, ob ich den Dreck auch wieder beseitige, oder ob das alles liegenbleibt, sobald ich ins Behandlungszimmer zitiert werde. Ich weiss es zu dem Zeitpunkt nicht. Möchte es von der Dauer der Wartezeit abhängig machen, wie viel Aufmerksamkeit ich diesen verirrten Krümeln noch schenken möchte. Sie haben auch nicht mehr verdient. Das Baguette schmeckt eh lasch und die widerspenstige Tomate macht mir mehr zu schaffen als der Krümelberg auf dem Boden. Tomatenscheiben auf Brötchen sind eine Erfindung von Menschen, die keine Brötchen mit Tomatenscheiben essen. Warum sonst, sollte man sich freiwillig ein Hindernis zwischen die Lippen schieben, das tropft, das Brötchen labbrig und fade macht, und lästige Flecken auf der Klamotte hinterläßt? Wäre ich jetzt in freier Natur, würde ich die Tomate zu Boden fallen lassen und den Verlust ignorieren. Nutzloses Tomatenpack. Da ich mich aber in einem zivilisierten Wartezimmer für Kassenpatienten befinde, scheint mir diese Lösung ungeeignet und ich schlucke das rote Stück angewidert runter.
Da werde ich auch schon in den Behandlungsraum zitiert. Schnell noch den Mund abputzen, Hände abwischen und Brötchentüte zusammenknüllen.
Für Aufräumarbeiten bleibt leider keine Zeit.